Urteil: Eltern haften für Kinder bei Fahrradunfall?

Haftung von Kindern

Ein Satz, der allen bekannt ist: Eltern haften für Ihre KinderDaher ist die Haftungsfrage in den meisten Fällen unstreitig, wenn das Kind für einen Schaden verantwortlich ist. Entweder greift die Versicherung des Kindes oder die der Eltern. In Folgendem Fall, bei dem ein Kind für einen Fahrradunfall verantwortlich war, wurde die Haftungsfrage und Aufsichtspflicht gerichtlich beurteilt.

Leitsätze: 

  • Grundsätzlich kann und darf aus der Kenntnis der örtlichen Verhältnisse eine gesteigerte Sorgfaltspflicht abgeleitet werden (vgl. BGH BeckRS 2014, 17299 Rn. 7). Voraussetzung dafür ist allerdings, dass dem Betroffenen die sich aus den örtlichen Verhältnissen ergebende Gefahr bekannt und bewusst ist, was positiv festgestellt werden muss.  
  • Ihrer in Bezug auf ihre Kinder bestehenden Aufsichtspflicht genügen Eltern im Straßenverkehr dann, wenn die Aufsicht, dem Alter und Leistungsvermögen des Kindes angepasst, gewährleistet, dass aufgrund des unberechenbaren und einem Erwachsenen noch nicht vergleichbaren, also kindestypischen Verhaltens entstehende Gefahren für den Straßenverkehr im Rahmen des Zumutbaren verhütet werden (vgl. BGH BeckRS 9998, 75307). Damit ist es nicht vereinbar, zunächst selbst eine nicht notwendige Gefahrenlage zu schaffen und ein erst sechsjähriges Kind ohne jegliche Unterweisung der Eigenverantwortung zu überlassen.
  • Bei der Annahme eines Mitverschuldens des Verletzten dürfen nur solche Umstände erfasst werden, die sich erwiesenermaßen auf den Unfall ausgewirkt, also als Gefahrenmoment in dem Unfall tatsächlich niedergeschlagen haben; diese Umstände müssen feststehen, also unstreitig, zugestanden oder nach § 286 ZPO bewiesen sein (vgl. BGH BeckRS 2013, 19779).  
 

Sachverhalt:

Zugrunde liegt ein Sturz des Klägers am Sonntag, den 08.07.2012 gegen 17.45 Uhr, auf einem Radweg. Der Kläger war mit seinem Fahrrad unterwegs gewesen, als er wegen der in den Fahrradweg einfahrenden Tochter des Beklagten eine Notbremsung machen musste. Der Kläger macht erhebliche Verletzungen und Dauerschäden geltend, der Beklagte bestreitet eine Aufsichtspflichtverletzung für seine damals sechsjährige Tochter. Hinsichtlich des Parteivortrags und der tatsächlichen Feststellungen erster Instanz wird auf das angefochtene Urteil vom 25.08.2014 (Bl. 69/74 d. A.) Bezug genommen (§ 540 I 1 Nr. 1 ZPO).
 
Das Landgericht Traunstein hat nach Beweisaufnahme die Klage vollständig abgewiesen (EU 1 = Bl. 69 d. A.), weil der Beklagte sich vom Vorwurf einer Aufsichtspflichtverletzung habe entlasten können (EU 4 = Bl. 72 d. A.).
 

TIPP: Lesen Sie hier, wann Sie an einem Fahrradunfall Teilschuld tragen.

Beweiserhebung

Die Beweiserhebung des Erstgerichts ist zu beanstanden, weil einerseits angebotene und im Übrigen von Amts wegen einzuholende Beweismittel ohne Rechtfertigung und aufgrund unzutreffender Rechtsauffassungen nicht verfolgt worden, andererseits die Sachverhaltsfeststellungen lückenhaft und unklar geblieben sind. Insbesondere wäre als entscheidungserheblich zu prüfen und zu klären gewesen,
 
  1. welche Sichtverhältnisse der Beklagte im Zeitpunkt seines eigenen Einfahrens in den Radweg vorgefunden, sowie mit welchem zeitlichen Abstand und in welcher Entfernung er den Kläger erstmals wahrgenommen hatte, oder hätte wahrnehmen können,
  2. ob, gegebenenfalls welche Anweisungen der Beklagte seiner Tochter im Streitfall für das Einfahren von der Böschung in den Radweg erteilt hat,
  3. ob der Beklagte unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls die Möglichkeit unmittelbaren Zugriffs auf seine Tochter aufgeben durfte, sowie welche Einflussmöglichkeiten für welche Zeitdauer noch verblieben waren,
  4. zu welchem Zeitpunkt vor dem Unfall und in welcher Entfernung vor der Unfallstelle eine Reaktionsaufforderung für den Kläger bestand, und er damit rechnen musste, dass ein Kind in seinen Verkehrsraum einfährt.
 

Falsches Ersturteil

Zutreffend geht das Ersturteil von einer grundsätzlichen Haftung des Beklagten für Schäden des bei einem Fahrradunfall an seinem Körper, seiner Gesundheit und seinem Vermögen geschädigten Klägers aus (§ 832 I 1 BGB). Deswegen genügt der Kläger zunächst seiner Darlegungs- und Beweislast mit der – hier unstreitigen – Behauptung, er sei durch ein Verhalten der Tochter des Beklagten zu Sturz gekommen und verletzt worden.
 
Dagegen obliegt dem Beklagten jeweils Darlegung und Nachweis, dass die Ersatzpflicht mangels ursächlichen Verschuldens ausgeschlossen sei, oder der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden wäre (§ 832 I 2 BGB). Gleiches gilt für die Behauptung, der Unfall sei jedenfalls ganz überwiegend vom Kläger verursacht oder mitverschuldet worden (§ 254 I BGB). Da diese Entlastung vom Kläger bestritten ist, ist eine Beweiserhebung zwingend geboten.
 
Die Aufsichtspflicht der Eltern für sechsjährige Kinder im Straßenverkehr beschränkt sich keineswegs auf die vom Erstgericht ausgewählten Gesichtspunkte.
 
 

LESETIPP: Wie Sie sich nach einem Fahrradunfall richtig verhalten, haben wir für Sie in diesem Beitrag zusammengefasst.

Nach allgemeiner Auffassung (etwa BGH NJW 1968, 249; NJW-RR 1987, 1430) hat die Aufsicht, dem Alter und Leistungsvermögen des Kindes angepasst, zu gewährleisten, dass aufgrund des unberechenbaren und einem Erwachsenen noch nicht vergleichbaren, also kindestypischen Verhaltens entstehende Gefahren für (im Streitfall) den Straßenverkehr im Rahmen des Zumutbaren verhütet werden. Damit ist jedenfalls nicht vereinbar, zunächst selbst eine nicht notwendige Gefahrenlage zu schaffen und ein erst sechsjähriges Kind ohne jegliche vorherige Unterweisung der Eigenverantwortung zu überlassen.
 
Sollte eine Aufsichtspflichtverletzung des Beklagten festgestellt werden und sich somit eine (zunächst unbeschränkte) Haftung aus § 832 I BGB ergeben, könnte ein Mitverschulden des Klägers bedeutsam werden. Dabei dürfen nur solche Umstände erfasst werden, die sich erwiesenermaßen auf den Unfall ausgewirkt, also als Gefahrenmoment in dem Unfall tatsächlich niedergeschlagen haben. Diese Umstände müssen feststehen, also unstreitig, zugestanden oder nach § ZPO § 286 I 1 ZPO bewiesen sein (BGH NJW 1995, 1029; NZV 2007, 190; NJW 2014, 217; Senat, Urt. v. 12.06.2015 – 10 U 3981/14 [juris, Rn. 49, m. w. N.]), und erfordern eine umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls nach genauer Klärung des Unfallhergangs (Senat, Urt. v. 12.06.2015 – 10 U 3981/14 [juris, Rn. 49, m. w. N.]; Urt. v. 31.07.2015 – 10 U 4377/14 [juris, Rn. 55, m. w. N.]). Hierzu wird das Erstgericht tragfähige Feststellungen erst noch zu treffen haben.
 
Zuletzt ist nach ständiger Rechtsprechung des BGH eine vollständige Überbürdung des Schadens auf einen der Beteiligten unter dem Gesichtspunkt des Mitverschuldens nur ausnahmsweise in Betracht zu ziehen (BGH DAR 2015, 455).
 

Das Ergebnis 

Weder eine grundsätzliche Bedeutung der Sache noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern eine Entscheidung des Revisionsgerichts. Die Entscheidung weicht nicht von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung ab und betrifft einen Einzelfall, der grundlegende Rechtsfragen nicht aufwirft.
 
Der Streitwert errechnet sich aus den summierten Beträgen der einzelnen Forderungen, entsprechend den Berufungsanträgen des Klägers, wobei der Senat das Feststellungsinteresse unter Berücksichtigung der im Berufungsverfahren befürchteten Dauerschäden geschätzt hat:
 
– Mindestbetrag des weiteren Schmerzensgeldes: 6.000,- €
 
– Erwerbsschaden: 6.128,25 €
 
– geschätztes Feststellungsinteresse: 5.000,- 
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