AG Karlsruhe-Durlach: Legal Tech darf Verkehrsunfälle regulieren

Urteil Gericht

Während immer mehr Unfallgeschädigte die schnelle und risikofreie Hilfe von VINQO in Anspruch nehmen, begehrt ein Versicherungskonzern auf: er versucht die Rechtsverfolgungskosten zu versagen – jedoch erfolglos.

Das AG Karlsruhe-Durchlach entschied mit Urteil vom 15.04.2021, Az. 2 C 49/21, dass das verbraucherorientierte Angebot von VINQO mit dem Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) vereinbar und die Rechtsverfolgungskosten zuzuerkennen sind. 

 


Aktenzeichen: 2 C 49/21

Amtsgericht Karlsruhe-Durlach

Im Namen des Volkes

Urteil

in dem Rechtsstreit

Legal Data Technology GmbH, vertreten durch d. Geschäftsführer Tim Platner, Heinz-Fangmann-Str. 2-6, 42287 Wuppertal

 – Klägerin –

Prozessbevollmächtigte: XX

gegen

XXX

 – Beklagte –

Prozessbevollmächtigte: XX

wegen Erstattung Rechtsverfolgungskosten

hat das Amtsgericht Karlsruhe-Durlach durch den Richter am Amtsgericht Dr. XXX am 15.04.2021 ohne mündliche Verhandlung gemäß § 495a ZPO für Recht erkannt:

  1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 143,84 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 25.11.2020 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
  2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
  3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
  4. Die Berufung wird zugelassen.

Beschluss

Der Streitwert wird auf 147,56 € festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Erstattung vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten, die an die Klägerin abgetreten worden sind, die daraus als Rechtsdienstleistungsunternehmen ein Geschäftsmodell entwickelt hat.

Die Klägerin ist ein registriertes Rechtsdienstleistungsunternehmen. Sie betreibt die Verbraucherplattform „VINQO.de“, auf der sie Geschädigten die außergerichtliche Geltendmachung und Durchsetzung von Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüchen ohne Kostenrisiko anbietet: „Wir erhalten nur im Erfolgsfall 15% inkl. MwSt. des erzielten Schmerzensgeldes. Sind wir nicht erfolgreich, übernehmen wir alle Kosten der Rechtsverfolgung für Sie! So einfach.“

Die Klägerin wurde am 23.10.2020 von XXXX beauftragt, Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte außergerichtlich geltend zu machen und durchzusetzen. Zwischen den Parteien wurden Gebühren gemäß § 4 RDGEG i.V.m. RVG W analog vereinbart und diese an die Klägerin an Erfüllung statt abgetreten. Die Klägerin hat die Abtretung angenommen.

Die Klägerin machte für den Zedenten ein Schmerzensgeld i.H.v. 1.300 € und eine Kostenpauschale i.H.v. 25 € geltend. Daraufhin leistete die hinter der Beklagten stehende Haftpflichtversicherung auf die geltend gemachten Ansprüche eine Zahlung i.H.v. 625 €.

Die Klägerin machte dann aus einem Gegenstandswert von 625 € den Kostenerstattungsanspruch gemäß § 4 RDGEG i.V.m. RVG W analog i.H.v. 147,56 € geltend. Die hinter der Beklagten stehende Haftpflichtversicherung lehnte die Erstattung der geltend gemachten Rechtsverfolgungskosten ab.

 Die Klägerin ist der Auffassung, dass die geltend gemachten Rechtsverfolgungskosten erstattungsfähig seien. Es mache keinen Unterschied, ob sich der Geschädigte eines Rechtsdienstleisters oder eines Rechtsanwalts bediene. Auch der Bundesgerichtshof erkenne die Verpflichtung zur Erstattung der abgetretenen Rechtsverfolgungskosten an. Ein Verzug sei nicht erforderlich. Die Höhe des Kostenerstattungsanspruchs richte sich nach § 4 RDGEG i.V.m. RVG VV analog.

Die Klägerin beantragt:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 147,56 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 25.11.2020 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

 die Klage abzuweisen.

Die hinter der Beklagten stehende Haftpflichtversicherung hält das Geschäftsmodell der Klägerin für unzulässig und fürchtet eine Flut von Klagen, die von der Anwaltschaft aus Gründen mangeln der Rentabilität nicht geführt wurden. Sie meint die Kosten eines Inkassounternehmens seien durch den Schädiger nur dann zu erstatten, wenn dieser sich gegenüber dem Geschädigten zum Zeitpunkt der Beauftragung des Inkassounternehmens in Verzug befunden habe. Dies gelte auch, wenn das Inkassobüro mit dem Forderungseinzug bei einem Kfz-Haftpflichtschaden beauftragt werde. Zudem seien die Kosten einer Rechtsdienstleistung keine erforderlichen Kosten im Sinne des § 249 BGB. Die Regulierung eines Personenschadens sei von einer Inkassovollmacht nicht mehr gedeckt mit der Folge, dass die streitgegenständliche Abtretung gemäß § 134 BGB als nichtig anzusehen sei. Im Übrigen könne die Klägerin als Rechtsdienstleister einem Geschädigten eines Verkehrsunfalls nicht die Abwicklung der gesamten Schadensersatzansprüche als Inkassounternehmen anbieten. Solche Dienste seien einem Rechtsanwalt Vorbehalten. Die Tätigkeit der Klägerin sei auch wettbewerbswidrig, da diese auf dem identischen Gebiet wie ein Rechtsanwalt auf Basis eines Erfolgshonorars arbeite.

Wegen der weiteren Einzelheiten des umfangreichen Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist bis auf einen ganz geringen Teil wegen der im Zeitraum vom 01.07.2020 bis 31.12.2020 abgesenkten Mehrwertsteuer begründet.

Der Klägerin steht aus abgetretenem Recht gegen die Beklagte gemäß §§ 7 StVG. 249, 398 BGB ein Anspruch auf Zahlung i.H.v. 143,84 € zu.

 1.

Die Parteien streiten im Wesentlichen darüber, ob ein Inkassodienstleister rechnergestützt die Unfallschadenregulierung anbieten darf und dem Unfallgeschädigten dann ein Anspruch auf Erstattung der außergerichtlichen Kosten zusteht, den er wirksam an die Klägerin abtreten kann.

Die Tätigkeit der Klägerin als registrierter Inkassodienstleistungen hält sich noch im Rahmen der ihr nach § 10 Absatz ein S. 1 Nr. 1 RDG erteilten Inkassodienstleistungsbefugnis.

a)

Der Begriff der Rechtsdienstleistung in Gestalt der Inkassodienstleistung (Forderungseinziehung) gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG, die ein im Rechtsdienstleistungsregister eingetragener Inkassodienstleister nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG erbringen darf, ist unter Berücksichtigung der vom Gesetzgeber mit dem Rechtsdienstleistungsgesetz – in Anknüpfung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – verfolgten Zielsetzung einer grundlegenden, an den Gesichtspunkten der Deregulierung und Liberalisierung ausgerichteten, die Entwicklung neuer Berufsbilder erlaubenden Neugestaltung des Rechts der außergerichtlichen Rechtsdienstleistungen nicht in einem zu engen Sinne zu verstehen. Vielmehr ist – innerhalb des mit diesem Gesetz verfolgten Schutzzwecks, die Rechtsuchenden, den Rechtsverkehr und die Rechtsordnung vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungen zu schützen (§ 1 Abs. 1 Salz 2 RDG) – eine eher großzügige Betrachtung geboten (BGH VIII ZR 285/18).

b)

Für die auf dieser Grundlage vorzunehmende Beurteilung, ob sich die Tätigkeit eines registrierten Inkassodienstleisters innerhalb seiner Inkassodienstleistungsbefugnis gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG hält, lassen sich keine allgemeingültigen Maßstäbe aufstellen. Erforderlich ist vielmehr stets eine am Schutzzweck des Rechtsdienstleistungsgesetzes orientierte Würdigung der Um stände des Einzelfalls einschließlich einer Auslegung der hinsichtlich der Forderungseinziehung getroffenen Vereinbarungen. Dabei sind die Wertentscheidungen des Grundgesetzes in Gestalt der Grundrechte der Beteiligten sowie der Grundsatz des Vertrauensschutzes zu berücksichtigen und ist den Veränderungen der Lebenswirklichkeit Rechnung zu tragen (BGH VIII ZR 285/18)

c)

Überschreitet hiernach ein registrierter Inkassodienstleister seine Inkassodienstleistungsbefugnis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG, kann darin ein Verstoß gegen § 3 RDG liegen. Ein solcher Verstoß hat, wenn die Überschreitung bei einer umfassenden Würdigung der Gesamtumstände aus der objektivierten Sicht eines verständigen Auftraggebers des Inkassodienstleisters zum einen eindeutig vorliegt und zum anderen unter Berücksichtigung der Zielsetzung des Rechtsdienstleistungsgesetzes in ihrem Ausmaß als nicht nur geringfügig anzusehen ist, die Nichtigkeit nach § 134 BGB der zwischen dem Inkassodienstleister und dessen Auftraggeber getroffenen Inkassovereinbarung einschließlich einer in diesem Zusammenhang erfolgten Forderungsabtretung zur Folge (BGH VIII ZR 285/18).

d)

 Von einer Nichtigkeit nach § 134 BGB ist danach insbesondere dann regelmäßig auszugehen, wenn der registrierte Inkassodienstleister Tätigkeiten vornimmt, die von vornherein nicht auf eine Forderungseinziehung im Sinne des § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG, sondern etwa auf die Abwehr von Ansprüchen gerichtet sind oder eine über den erforderlichen Zusammenhang mit der Forderungseinziehung hinausgehende Rechtsberatung zum Gegenstand haben oder wenn das „Geschäftsmodell“ des Inkassodienstleisters zu einer Kollision mit den Interessen seines Auftraggebers führt (BGH VIII ZR 285/18).

 e)

Nach diesen Maßstäben des BGH in der Lexfox-Entscheidung ist es von der Inkassodienstleistungsbefugnis eines nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG registrierten Inkassodienstleisters (noch) gedeckt, wenn dieser auf seiner Internetseite die Regulierung von Ansprüchen nach einem Verkehrsunfall anbietet und dem Geschädigten die Möglichkeit gibt, ihn durch Anklicken eines Buttons mit der außergerichtlichen Durchsetzung von näher bezeichneten Forderungen unter Vereinbarung eines Erfolgshonorars sowie der Freihaltung des Geschädigten von sämtlichen Kosten zu beauftragen und in diesem Zusammenhang mit die genannten Ansprüche zum Zwecke der Durchsetzung treuhänderisch an den Inkassodienstleister abzutreten, der im Falle einer Erfolglosigkeit der eigenen außergerichtlichen Rechtsdienstleistungstätigkeit einen Rechtsanwalt mit der gerichtlichen Durchsetzung der Ansprüche beauftragen kann. Die in diesem Rahmen erfolgte treuhänderische Abtretung dem Zusammenhang mit dem Unfall bestehenden Forderungen verstößt noch nicht gegen ein gesetzliches Verbot (§ 3 RDG) und ist demzufolge nicht gemäß § 134 BGB nichtig.

3.

Der Klägerin kann daher die außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten wie bei Beauftragung eines Rechtsanwalts geltend machen.

4.

Die Höhe des Kostenerstattungsanspruchs richtet sich nach § 4 RDGEG i.V.m. RVG analog. Dies wurde auch vom BGH gebilligt (VIII ZR 285/18).

Die Kosten eines Rechtsanwalts hätten sich bei einem Gegenstandswert von 625 € auf 143,84 € belaufen, da im Zeitraum der Leistungserbringung der Mehrwertsteuersatz sich auf 16 % belief.

 5.

Entgegen der Auffassung der Beklagten bedarf es nicht eines Verzugs der Beklagten, um eine Erstattung der Rechtsverfolgungskosten bei der Beauftragung eines Rechtsdienstleisters geltend machen zu können. Die Erstattungsfähigkeit von Rechtsverfolgungskosten bei der Beauftragung eines Inkassodienstleisters hängt von schadensrechtlichen und nicht von verzugsrechtlichen Gesichtspunkten ab.

6.

Die Zinsen schuldet die Beklagte unter Verzugsgesichtspunkten gemäß §§ 280, 286, 288 BGB.

7.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 92 Abs. 2 Nr. 1,708 Nr. 11,711,713 ZPO.

8.

Die Berufung war wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 511 Abs. 4 Nr. 1 zuzulassen.

 

 


Kurzkommentar

Das Urteil stellt einen weiteren Beitrag zu der in der Literatur und Rechtsprechung vor dem Hintergrund neuerer Legal Tech Angebote fortwährend geführten Diskussion über Begriff und Reichweite des § 2 Abs. 2 RDG dar. Das Gericht erachtet die Regulierung von Verkehrsunfällen bzw. Schmerzensgeldansprüchen – sprachlich der Lex-Fox I-Entscheidung entlehnt – jedenfalls „(noch)“ von der zuerteilten Rechtsdienstleistungserlaubnis umfasst.

Hiermit war auch zu rechnen. Bereits durch das Bundesverfassungsgericht 2002 und 2004 wurde ein fortwährend weites Verständnis des Inkassobegriffs betont, das unter Ablösung des Rechtsberatungsgesetzes (RBerG) bei der Entwicklung des RDG aufgegriffen und in Ansehung dessen vom Bundesgerichtshof 2019 in der ersten Lex-Fox-Entscheidung fortgeführt worden ist. 

Bereits der historische Gesetzgeber hatte bei der Entwicklung des § 2 RDG die Unfallschadenregulierung in den Gesetzesmaterialien aufgenommen und eingeordnet (BT-Drs. 16/3655 S. 46), sodass der Forderungseinzug von Schadenersatz- und Schmerzensgeldansprüchen unter Berücksichtigung aller  Auslegungsmethoden unter den Begriff des § 2 Abs. 2 RDG zu fassen ist. 

Eine Kommentierung des Urteils vom Geschäftsführer von VINQO, Tim Platner, finden Sie mit weiteren Hintergrundinformationen in der am 03.05.2021 erscheinenden Mai-Ausgabe der QLAIM.

 

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